Tatjana Dittritsch

Der Pelz fÜr die KÖnigin

© Illustration Woldemar Schulz

In der Tiefe des Ameisenhaufens befand sich die Zelle der Ameisenkönigin. Sie war groß und eigensinnig. Alle Tage verspeiste sie das köstliche Essen, das ihre Arbeiterinnen ihr servierten,  und legte jede Menge Eier. Sie wurde von riesigen Wächtern bewacht, die beobachteten, dass all ihre Befehle wirklich ausgeführt wurden. Einmal sah sie auf einem Ast eine Raupe in einem üppigen  Pelzmantel. Von da an konnte sie nicht mehr richtig schlafen, nicht essen, keine Eier mehr legen. Das sollte so lange dauern, bis auch sie einen solchen Pelz  besitzen würde.
Auf die Suche nach einer Raupe wurde eine Ameisen-Abteilung geschickt.
Sie folgte ihrem Kommandeur und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. 
„Links! Links! Links! Zwei, drei!“, rief der Kommandeur, ein Veteran mit einem Schnurrbart, den er während seines langjährigen Dienstes schon längst eingebüßt  hatte.
Die Ameisen warfen die linken Beinchen nach vorn und bewegten sich seitwärts voran.
„Rechts! Rechts! Rechts! Zwei, drei! “Die Ameisen waren gehorsam und bewegten sich nun nach rechts. Von dieser Seite betrachtet,  hatte man den Eindruck, dass sie tanzten.
Es war unbequem, so zu marschieren, aber Befehl ist Befehl!
Endlich merkte der Kommandeur, dass hier etwas nicht stimmte, und gab das Kommando: „Links! Rechts! Links! Rechts!“
Jetzt gelang die Bewegung glatter und lustiger, die Abteilung schritt einheitlich vorwärts.

Als sie einen Bach erreicht hatten, befahl der Veteran, sich zur Überfahrt bereit zu machen. Die Mitglieder der Abteilung liefen am Ufer entlang und suchten emsig nach einer Brücke!
Plötzlich trieb die Strömung einen Ast ans Ufer. Der Veteran kommandierte: „Folgt mir!“, und betrat als erster die Brücke. Die Soldaten folgten ihm artig.
Am jenseitigen Ufer stürzten sich die Soldaten in das Dickicht des Waldes. Schon nach einigen Wendungen erkannten sie die Spuren, denen sie nur zu folgen brauchten:

„Hier ist das von uns gesuchte Subjekt  durchgekrochen“, meldete der Kommandeur.
Und wirklich, bald sahen sie  einen grünen Hügel, der sich langsam voran bewegte, und etwas weiter – noch einen zweiten, diesmal einen bräunlichen. Die Sonne erwärmte die Erde, und einige Raupen kamen herausgekrochen, um sich zu wärmen.
Der Kommandeur war fassungslos. Pelze gibt es viele, aber welchen will denn bloß die Königin? Weil er hinsichtlich der Farbe keine Anweisung bekommen hatte, entschied er sich kurzerhand, zwei verschiedene herbeizuschaffen.

Mit dem Ruf: “Umkreisen!“, stürzte er sich in den Sturm.
Es war schwer, sich in dem Dickicht des Felles nach oben hin durchzukämpfen, aber er ließ sich nicht entmutigen und bereitete sich seinen Weg. Der kühne Kommandeur,  jetzt auf dem Gipfel, ging tapfer das Risiko ein, das darin bestand, dass, wenn sich die Raupe beim Kriechen einrollte, konnte er herunterfallen.
Von oben  konnte er nun ermessen, wie groß der zu erbeutende  Pelz war. Da dämmerte dem Kommandeur klar, dass die ganze Ameisen-Abteilung es nicht schaffen könnte, die Raupe zur Königin zu schleppen. Er hatte die Idee,  die Raupe davon zu  überzeugen, dass sie selbständig an den Ameisenbau heran krieche.
Aus dem Pelz der Raupe ließ er sich auf die Erde hinab und  krabbelte nach vorn, gerade zu Gesicht und Mund der Raupe. Welch ein Schrecken durchfuhr ihn: er erblickte riesige, ununterbrochen kauende und mahlende Zähne! Sie erschienen ihm ganz fürchterlich, zumal sie dicht bei dicht nebeneinander standen.
„Gnädige Frau“, wandte sich stotternd die Ameise an die Raupe, auf den Hinterbeinen stehend, damit man sie hören konnte. „Haben Sie vielleicht schon davon gehört, dass  im Wald  ein Wettbewerb ausgetragen werden soll, wer  ist die Allerschönste weit und breit?“
Die Raupe  erstarrte. Während ihre Hinterbeine noch gingen, bewegte sich der Pelz  auf der Stelle. 
„Mich hat man zum  Vorsitzenden der Jury ernannt, und ich bin mit meinen Kollegen nun auf der Suche nach einer echten Schönheit. Ich empfehle mich und die übrigen Mitglieder der Jury!“.
Auf sein Kommando hin stellten sich die Mitglieder der Abteilung auf die Hinterbeine.
„Sie haben ja ein unglaubliches Fell!“
Die Raupe kaute weiter,  aber  nach  diesen  Worten  atmete sie etwas schwerer.
„Wissen Sie, der Wettbewerb bestimmt schon  den ganzen Wald. Man wird von  Bewerbern geradezu überlaufen!“
Nun hatten die  Hinterbeine  der Raupe die vorderen erreicht und standen still. Die Raupen-Schönheit sah die Ameise aufmerksam an, während ihre fürchterlichen Kiefer weiter mahlten.

„Wahrscheinlich interessiert Sie meine  Information ja auch gar nicht.  Ist gut, dann spreche ich eben mit der nächsten Bewerberin.  Ihr Fell  hat auch eine so wunderschöne Farbe“.

Die Raupe hörte sofort mit dem Kauen auf, erhob ihren Kopf voll Neugierde, aber auch Eifersucht und nahm ihre Mitbewerberin sehr skeptisch in den  Blick.
„Wartet mal eben!“. Die Raupe atmete erschrocken  aus. Ihr Atem brachte die Ameisen in ihrer Nähe zum Umfallen. „Wenn Sie bitte noch einmal mein Fell betrachten würden, dann  sähen  Sie die einzigartige Schönheit meines Felles! Jedes Härchen glänzt und glitzert!“
„Das sieht man doch mit bloßem Auge!“
„Und zu  der anderen braucht ihr doch gar nicht zu gehen, ihr vergeudet damit doch nur eure Zeit.  Im Vergleich zu mir ist sie doch kahl! Alle wissen das! Es gibt doch gar keinen Zweifel: die größte Schönheit bin ich!“ Damit bewegte sich die Raupe ein Stückchen voran.
„Regen Sie sich bloß nicht auf!“, beruhigte sie der Kommandeur. „Sie sind wunderschön und sehr anziehend. Aber Wettbewerb ist Wettbewerb. Wir brauchen wenigstens eine zweite  Bewerberin. Warten Sie bitte hier und kriechen Sie nicht fort!“
Die Raupe atmete  beruhigt  aus: „Ich warte!“
Der Kommandeur war mit seinem Einfallsreichtum sehr zufrieden  und marschierte  mit seiner Abteilung in die Nähe des  dunkelbraunen Hügels.
Er befahl seinen Soldaten, auf den Brennnesselstrauch zu klettern, unter dem die Raupe her kroch, und von dort mit ihr die nötigen Verabredungen zu treffen.
„Hochgeschätzte, Gnädigste!“,  rief  er von oben.
Aber es gab keine Reaktion. Der Kommandeur  spitzte mit seinen Zähnchen einen  Grashalm zu  und stach  mit ihm vorsichtig in den Fellmantel der Raupe. 
„Hallo, hören Sie! Geschätzte!“
Die Raupe  wandte  den Kopf.
„Ich bin hier oben!“
Die Raupe bemerkte ihn endlich  und erhob sich mit ihrem  Vorderteil. Ihre Zähne näherten sich dem Ameisenkommandeur bedrohlich.
„Die grüne Raupe sendet Ihnen einen Gruß. Sie hat vor, sich mit uns zum Schönheitswettbewerb zu  begeben. Sie hat große  Chancen, ihn zu gewinnen.“
Die Raupe erbebte nun in  ihrem  ganzen Körper und strampelte hektisch mit ihren Vorderbeinchen.
„Das ist doch  lächerlich! Was hat  die denn bloß  dort verloren?“

„Na, sie will den Preis gewinnen! Sie hat ein ganz hervorragendes Fell! Ich bin der Vorsitzende der Jury, und das hier sind die anderen Mitglieder. Eine Bewerberin haben wir schon ausgewählt, und die anderen warten an dem Ort, an dem  die Entscheidung über den Schönheitspreis gefällt wird.“
„Und  was ist mit mir?!“
„ Man erzählt sich, Sie seien von einem Sperling gepickt worden! Schade! Sie haben mein volles Mitleid!!“
„Hat Ihnen das etwa die grüne Raupe erzählt? Glauben Sie ihr kein Wort!  Sie, diese alte Schlampe, kriecht mit ihrem Fell sogar auf dem Mist herum und  ekelt sich nicht davor und – stinkt! Und auf sie klettert jedes Ungeziefer hinauf. Ich aber gehe mit mir streng um und achte sehr sorgfältig auf Reinlichkeit.“
„Das sieht man!“
„Von oben sieht man sehr gut, wie schön ich bin! Begleiten Sie mich bitte zu dem  Wettbewerb. Dann werden wir ja sehen, wer  gewinnt!“
Bald krochen die Bewerberinnen in die Falle, ja die eine überholte auf dem Weg sogar noch die andere!
Der Kommandeur schaffte es mit  seiner Abteilung kaum, ihnen zu folgen.
„Ei! Herr Vorsitzender!“ Die  braune Raupe wandte ihren  Kopf um. „Krabbeln Sie doch ruhig auf mich herauf, sonst kommen wir bis zum Abend nicht an.“
„Schmeichelst du dich bei ihm etwa ein?“, fragte die grüne Raupe empört.
„Denkst wohl, dass das dir hilft, den Wettbewerb zu gewinnen?!“ Und dem Kommandeur zugewandt zischte sie: „ Gehen Sie mal  auf ihr hin und her und schauen Sie, was sie unter ihrem Pelz verdeckt!“
„Ich habe nichts, was ich zudecken müsste! Ich habe ein feines Härchen neben dem anderen! Dich  aber muss man vom Kuhmist reinwaschen, in dem du dich ja so gerne suhlst. Ei, da oben, hört Ihr? Über ihr hat sich, ohne dass es ihr etwas ausgemacht hätte, eine Kuh entleert!“ Die Rivalin  bebte mit ihrem  ganzen Körper.
Der Kommandeur  klammerte sich fest an das Fell, weil er fürchtete, mitsamt seinen Soldaten aus dem Raupenpelz herunterzufallen. Als sie zu dem Bächlein kamen, bot sich der Ast immer noch als Brücke an, und der ganze Tross nutzte die Gelegenheit, um das andere Ufer des Flüsschens  zu erreichen.
Bald sahen die Bewohner des Ameisenhaufens voller Erstaunen, wie es sich eine Abteilung ihrer Verwandten auf den zwei fetten Raupen bequem gemacht hatte.
„Ach, das hält man doch gar nicht aus, lachten sie laut!“ So amüsierte man sich  im Ameisenhaufen. „Zum ersten Mal sehen wir, dass die Esser sich hoch oben von ihrem eigenen Abendessen transportieren lassen.  Ei, ihr Raupen, herzlich willkommen zum Fest!“
„Was schreien sie da?“, fragten  sich die beiden Schönheiten.

Der Kommandeur gab seinen Mitbrüdern ein Zeichen, sie sollten sofort mit solchen Reden aufhören und  fügte, den Raupen zugewandt, stotternd hinzu: „ Wir veranstalten einen  Schönheitswettbewerb!  Meine Brüder und Schwestern haben sich dort auf dem Haufen versammelt, um dem Wettbewerb zuzuschauen.“
„Aber warum lachen die da oben denn so hämisch, und von welchem Abendessen und welchem Fest reden die?“
„Ihr seid es doch, unser  Festessen!“ Die Ameisen auf dem Haufen lachten und lachten. „Macht euch nicht so viel Stress und verbraucht euer Fett nicht, sonst bekommen wir weniger davon ab!“
Da  schöpfte die grüne Raupe einen  Verdacht.
„Wissen Sie, in der ganzen  Eile haben wir vorhin ganz vergessen, uns in Ordnung zu bringen, uns frisch zu machen und auf das Fest richtig vorzubereiten.“
„Das macht doch nichts,  macht wirklich  nichts, ihr seht doch auch so gut aus“, versuchte  der Ameisenkommandeur die Raupen zu beruhigen.
„Aber unser Fell muss sauber und glänzend sein! Krabbelt bitte herunter und wartet auf uns. Wir waschen uns nur noch schnell, und schon sind wir wieder da!“
„Keine  schlechte Idee“, dachte der Kommandeur. „Um  später  ihre Fellmäntel zu reinigen, würde man tatsächlich  den halben Ameisenhaufen zur Hilfe heranziehen müssen“. „Na gut, dann wascht euch gründlich und kommt rasch zurück“, antwortete er.
„Ich brauche mich nicht zu waschen“, antwortete die braune Raupe stur, „denn ich bin auch so schön!“
„Glaub mir, Freundin, eine Kopfwäsche würde dir wirklich nicht schaden!“, widersprach die grüne Raupe, weil sie ihre Raupenschwester retten wollte. „Aber mach, was du willst!“. Sie drehte sich um und kroch zu dem Bächlein.
„Ich habe mich noch nie gewaschen! Du aber bist vollgeschmiert mit Kuhmist, und nicht ich!“ Die braune  Raupe brummte vor sich hin, kroch aber hinter der grünen her.

Als sie in ordentlicher Entfernung waren, wandte sich die grüne Ameise der braunen zu:
„Hast du denn gar nichts verstanden?“
„Was  soll  ich nicht verstanden haben?“
„ Wir sind in  eine Falle geraten, und wir sollen das Abendessen für die Ameisen sein!“
„Was heißt hier: Abendessen? Wir sind doch zu dem  Schönheitswettbewerb gekrochen!“
„Es gibt gar keinen Wettbewerb! Die Ameisen haben uns nur in die Falle gelockt!“
„Das  sagst du nur so, um mich wegzuschicken, damit du  den ersten Platz  gewinnst!“
„Reg dich bloß nicht auf! Du kannst ja wieder zum Ameisenhaufen zurückkriechen: dann bist du die einzige Bewerberin! Wie du willst, ich aber mache mich schleunigst aus dem Staub.“

Als die Abteilung am Ufer angekommen war, trafen sie nur noch auf die braune Raupe, während den grünen Mantel der Königin ein Espenblatt den Bach hinab trug!
„Ich sagte doch, dass das Waschen schädlich ist. Die andere Raupe dort, die grüne, kroch ins Wasser und weg war sie. Nun wird sie zum Schönheitswettbewerb nicht kommen können!“
„Sie haben recht: ohne Zweifel sind Sie die Schönste, wir werden Ihnen die Krone überreichen.“

Nach  einiger Zeit bedeckte das warme Fell die Zelle der Königin, wo sie ihre Eier legte. Für diese Zeit zog sie sich in die Einsamkeit zurück, und alle warteten ungeduldig darauf, die Königin wiederzusehen.
Endlich erschien die Königin und zeigte sich ihren Untergebenen. Von Kopf bis zu den Füßen hatte sie sich in einen wunderbaren Mantel aus braunem Fell eingehüllt.
„Eure Majestät, wie schön Sie sind!“, schrien die Ameisen von allen Seiten.
„Ich danke euch!  Allerdings finde ich es etwas schade, dass ihr  die  andere  Raupe nicht erwischt habt. Ein grüner Pelz würde mir noch viel besser stehen!“

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